Gemeinsame Stellungnahme der DVPB Hessen und der politikdidaktischen Professuren in Hessen zur geplanten Änderung des Hessischen Lehrkräftebildungsgesetzes (HLbG) sowie der Verordnung zur Durchführung des HLbG (HLbGDV)

Die an den hessischen Universitäten und Studienseminaren maßgeblich an der Lehrkräftebildung in den Gesellschaftswissenschaften beteiligten Wissenschaftler*innen haben ähnlich wie unsere Kolleg*innen aus den Bildungswissenschaften, den Fachdidaktiken und unsere Kolleg*innen im hessischen Schuldienst begründete Bedenken gegenüber dem aktuellen Vorschlag zur Änderung des Hessischen Lehrkräftebildungsgesetzes (HLbG) und der zugehörigen Verordnung (HLbGDV).
Die Deutsche Vereinigung für Politische Bildung (DVPB) ist der Fach- und Berufsverband politischer Bildner*innen in Schule und außerschulischer Jugend- und Erwachsenenbildung. Im Landesverband Hessen vernetzen sich zugleich Hochschullehrende und Ausbilder*innen der ersten, zweiten und dritten Phase der Lehrkräftebildung wie auch sozialwissenschaftliche Fachlehrer*innen.
Die DVPB Hessen befürwortet die explizite Hervorhebung gesellschaftlicher und demokratischer Zielsetzungen in der Lehrkräftebildung mit besonderer Beachtung der „Entwicklung von Schule und Unterrichtsqualität in Bezug auf die gesellschaftliche Vielfalt und nachhaltige Entwicklung“ (§ 1 Abs. 3 HLbG) sowie die Ergänzung der zentralen Kompetenzen für die „Bildungswissenschaften“ durch den Zusatz: „demokratische Werte und Normen sowie deren Vermittlung kennen und reflektieren“ (§15 Abs. 4 HLbGDV). Zudem ist die grundsätzliche Zielstellung einer stärkeren Verknüpfung der wissenschaftlichen und berufspraktischen Ausbildungsteile ebenso wie der drei Phasen der Lehrkräftebildung ein zweifellos begrüßenswerter Ansatz.
Die Vorschläge für die Umsetzung dieser ambitionierten Ziele stehen hierzu jedoch in einem eklatanten Widerspruch und stoßen bei den Kolleg*innen der universitären und schulischen Lehrkräftebildung aus folgenden Gründen auf scherwiegende Bedenken:
(1)   Zusätzliche Aufgaben und Ziele der Lehrkräftebildung als Querschnittsaufgaben (u. a. Politische Bildung als Demokratiebildung, Inklusion, Digitalisierung, Berücksichtigung von Diversität, Bildung für nachhaltige Entwicklung, §1 Abs. 4 HLbG) sowie die Einführung eines zusätzlichen Langfachs für die Grundschule können (§ 3 HLbG) nicht bei einer gleichzeitigen faktischen Verkürzung der Studienzeit (aufgrund der Verstetigung einer Praxisphase in der bisherigen Studienzeit) erreicht werden. Für die Studierenden bedeutet die Ausweitung dieser Studieninhalte eine massive Verdichtung und Überfrachtung, die nicht adäquat in der zur Verfügung stehenden Studienzeit bewältigt werden kann.
(2)  Hessen hält mit diesem Lehrkräftebildungsgesetz an einem nicht mehr dem wissenschaftlichen Standard entsprechenden Bildungsverständnis fest, nach dem Lehrkräfte für Grund-, Haupt- und Realschulen lediglich auf dem Niveau eines Bachelorstudiums ausgebildet werden. Damit entkoppelt sich Hessen nicht nur in deutlicher Weise von den anspruchsvollen KMK-Bildungsstandards, sondern ebenso von den Empfehlungen des 16. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung sowie von europäischen Rahmenempfehlungen.
(3)   Mit dem Festhalten an der siebensemestrigen Regelstudienzeit für das Grund-, Haupt- und Realschullehramt, das fachlich in keiner Weise zu rechtfertigen ist, kommt zusätzlich das immer drängendere Problem des fehlenden wissenschaftlichen Nachwuchses auf die universitären Ausbildungsstätten zu: Es gibt keine promotionsfähigen Absolvent*innen im GHR-Bereich aus Hessen, die als wissenschaftliche und pädagogische Mitarbeitenden und Dozent*innen an der Universität – ohne ein weiteres Master-äquivalentes Aufbaustudium – beschäftigt werden können; d. h. die hessischen Universitäten stellen als Ausbilder*innen für GHR notwendigerweise Absolvent*innen aus anderen Bundesländern oder aus dem Gymnasialbereich sowie mit anderen Masterabschlüssen ein, die mit den curricularen und pädagogischen Rahmenbedingungen an hessischen Grund-, Haupt- und Realschulen nicht vertraut sind.
(4)  Die landesweite Erstellung von zentralen Klausuren im Rahmen der Ersten Staatsprüfung (§ 22 Abs. 2 HLbG) beschneidet nicht nur die Möglichkeiten einer differenzierten, fachadäquaten Gestaltung von Studium und Prüfung massiv, sondern verstößt auch gegen die grundgesetzlich verbriefte Freiheit von Forschung und Lehre. Die Zentralisierung von Abschlussprüfungen wird den anspruchsvollen Kompetenzanforderungen und Standards einer wissenschaftlichen Ausbildung mitnichten gerecht. Sie führt unweigerlich zu einer curricularen Engführung und einem unwissenschaftlichen „teaching to the test“ statt die Kompetenzen eines forschenden Lernens und Lehrens durch die eigenständige Bearbeitung aktueller Themen und Problemfelder auch in den Abschlussprüfungen zu dokumentieren.
(5)   Politischer Bildung als Demokratiebildung kommt durch die Hessische Verfassung und durch das Hessische Schulgesetz besondere Bedeutung zu. Insbesondere vor dem Hintergrund zunehmender antidemokratischer Tendenzen und Populismen als Schlüsselprobleme unserer Zeit ist eine curriculare und schulkulturelle Verankerung politischer Bildung in der Schule unerlässlich für heranwachsende Bürger*innen. Politische Bildung als Querschnittsaufgabe muss daher von allen Lehrkräften in der Schule vermittelt werden. Daraus folgt, dass Politische Bildung auch in der universitären Phase der Lehrkräftebildung als verpflichtender Bereich studiert werden muss. Aus diesem Grund sehen wir die Umbenennung und Engführung der erziehungs- und gesellschaftswissenschaftlichen „Grundwissenschaften” hin zu nicht näher spezifizierten „Bildungswissenschaften” weiterhin kritisch. Genauso kritisch ist diese Entwicklung für die zweite und dritte Phase der Lehrkräftebildung einzuschätzen. Politische Bildung muss auch hier einen festen Platz in Aus-, Fort- und Weiterbildungsangeboten haben.

Wir formulieren daher folgende Vorschläge und Forderungen zur Nachbesserung:

(1)  Ein Langfach für Studierende im Grundschullehramt (§ 10 Abs. 2 HLbG) kann weder fachdidaktisch noch fachwissenschaftlich verantwortet und muss daher gestrichen werden, wenn nicht die Regelstudienzeit auf zehn Semester erhöht wird.
(2)  Die Angleichung der Regelstudienzeit aller Lehramtsstudiengänge auf zehn Semester ist unerlässlich. Nur unter dieser Voraussetzung kann auch die Einführung eines Langfachs L1 umgesetzt und das Praxissemester für alle Lehramtsstudiengänge verstetigt werden.
(3)  Insbesondere für ein Langfach Sachunterricht werden zusätzliche Kapazitäten nicht nur für die Lehre, sondern auch für eine transdisziplinäre Studiengangsentwicklung benötigt: Ein Langfach aus mindestens drei Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik), fünf Gesellschaftswissenschaften (Geographie, Geschichte, Politik, Soziologie, Wirtschaft) und Technik stellt eine Überforderung dar und führt zu einem Qualitätseinbruch (im Vergleich zu den bisherigen Fachexpertisen in L2). Ein Langfach Sachunterricht ist – wenn überhaupt – nur mit drei verschiedenen Schwerpunktsetzungen (Naturwissenschaften, Gesellschaftswissenschaften, Technik/Arbeitslehre) umzusetzen. Dazu benötigen die Gesellschaftswissenschaften (ebenso wie die Naturwissenschaften) fächerverbindend aufgestellte Arbeitsgruppen zur Entwicklung entsprechender Studiengänge.
(4)  Politische Bildung für das Lehramt an Förderschulen soll hessenweit neu konzipiert und als Unterrichtsfach von der 1-10 Klasse weiterentwickelt werden. Dazu müssen entsprechende Ressourcen für die Konzeptionsentwicklung eines transdisziplinären Studiengangs (Gesellschaftswissenschaften/Politische Bildung für die Förderschule) sowohl für den in Kassel neu einzurichtenden Studiengang für Förderpädagogik als auch für die bestehenden Standorte (Frankfurt und Gießen) bereitgestellt werden.
(5)  Wir empfehlen dringend das bisherige Verständnis der „Grundwissenschaften“ nicht allein durch den (in erster Linie auf Pädagogik und Pädagogische Psychologie fokussierten) Begriff der „Bildungswissenschaften“ zu ersetzen, sondern hier die zentrale Rolle der Gesellschaftswissenschaften (v. a. im Hinblick auf die oben erwähnten Bildungsziele, entspr. § 1 HLbG und § 15 DV) auch im Titel zu betonen. Daher schlagen wir die Begriffsänderung in „Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften“ vor.
(6)  Für die Umsetzung der ambitionierten Bildungsziele (§1 HLbG) ist eine stärkere Berücksichtigung und deutliche curriculare Verortung (Diversität, Nachhaltigkeit, Demokratiebildung etc.) in den Studienanteilen sowohl in den Einzelfächern als auch in den Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften erforderlich.
(7)  Eine Verstetigung der „praktischen Ausbildung“ (bisher Praxissemester) kann nur bei gleichzeitiger Ausweitung der Regelstudienzeit (auf zehn Semester) fachlich und pädagogisch fundiert umgesetzt werden. Dazu bedarf es einer engen Verschränkung von bildungs-, gesellschafts-, fachwissenschaftlichen sowie fachdidaktischen Vorbereitungs-, Begleit- und Nachbereitungsseminaren.
(8) Wir befürworten die Verantwortung der Hochschulen für die Klausuren in der Ersten Staatsprüfung und lehnen die Zentralisierung dieser Prüfung ab.

Für den Vorstand der DVPB Hessen
BENEDIKT WIDMAIER
(1. Vorsitzender)
PROF. DR. SUSANN GESSNER
(2. Vorsitzende)
DR. CHRISTOPH BAUER
(Geschäftsführer)
PROF. DR. ANDREAS EIS
(Beisitzer)
PHILIPP KLINGLER
(Beisitzer)
JULIANE HAMMERMEISTER
(Beisitzerin)
MARIA SCHNEIDER
(Beisitzerin)
DR. MARTINA TSCHIRNER
(Beisitzerin)
Die politikdidaktischen Professuren in Hessen
PROF. DR. TIM ENGARTNER
(Professor für Didaktik der Sozialwissenschaf-ten mit dem Schwerpunkt politische Bildung an der Goethe-Universität Frankfurt)
PROF. DR. ANDREAS EIS
(Professor für Didaktik der politischen  Bildung an der Universität Kassel)
PROF. DR. SUSANN GESSNER
(Professorin für Didaktik der politischen  Bildung an der Philipps-Universität Marburg)
PROF. DR. SOPHIE SCHMITT
(Professorin für Didaktik der Sozialwissenschaften  an der Justus-Liebig-Universität Gießen)